Ostergrüße...
In den Tagen vor Ostern war der Krieg in der Ukraine in fast allen Therapiesitzungen präsent. Dabei ist mir aufgefallen, wie viele von euch gerade an ihre persönlichen Belastungsgrenzen kommen. Nach zwei Jahren Pandemie sind die Akkus leer, die Ressourcen erschöpft und unsere Fähigkeit, angemessen und mitfühlend auf die Geschehnisse in der Welt zu reagieren, ist oft eingeschränkt und unflexibel geworden. Trotz der eigenen Erschöpfung höre ich immer noch von Vielen, dass sie mit Schuldgefühlen und Scham zu kämpfen haben, wenn sie bemerken, dass sie nicht mehr können: „Wie kann ich mich ausruhen, während es anderen gerade so schlecht geht? Es fühlt sich falsch an, gut für mich zu sorgen, mich um mein Wohlbefinden und meine Lebensfreude zu kümmern, während nur wenige Stunden entfernt Menschen mit dem immensen Leid des Krieges konfrontiert sind.“
Ohne die vielfältigen Sicherheiten und Errungenschaften unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens schmälern zu wollen, muss ich doch an dieser Stelle mit Bestürzung feststellen, wie stark unsere Kultur nach wie vor von einem rigiden, fast gnadenlosen Leistungsdenken durchdrungen ist. Ich finde es ehrlich gesagt erschreckend, in welchem Ausmaß wir von den verinnerlichten Forderungen nach beständiger, gleichbleibend hoher Leistungsfähigkeit getrieben sind. Angesichts eigener Erschöpfung, eigener Frustration und eigenen Leids dieses mit dem Leiden der Menschen in der Ukraine „aufzurechnen“, um die inneren und äußeren Antreiber weiterhin zufrieden zu stellen und in typisch deutscher Manier „einfach weiter zu machen", treibt eine Negativspirale an, an deren Ende im schlimmsten Falle Burnout, Depression und körperliche Erkrankung stehen und – vielleicht am tragischsten von allem – der Verlust von Offenheit, Menschlichkeit und Mitgefühl. So stumpfen wir erst recht irgendwann ab und verschließen uns vor dem, was vor unserer Haustür passiert – nicht aus bösem Willen, sondern aus schierer Erschöpfung und Überforderung heraus.
Wie ihr wißt, interveniere ich im therapeutischen Kontext an dieser Stelle meist sehr deutlich und direkt und fordere euch zu Distanzierung von verinnerlichten Leistungsgedanken und zu Selbstmitgefühl und -freundlichkeit auf. Wenn die dann meist reflexartig auftauchenden Widerstände – und sei es auch nur kurz – beiseite gelassen werden können, machen die meisten Menschen schnell die Erfahrung, wie erleichternd und nährend sich eine gütige, freundliche und liebevolle Haltung sich selbst gegenüber auswirken kann.
Die Idee von Selbstmitgefühl und liebevoller Freundlichkeit sich selbst gegenüber ist übrigens nicht neu und auch nicht auf den heute populären asiatisch-buddhistischen Kulturkreis begrenzt. Ich musste in den letzten Tagen oft an die Worte von Bernhard von Clairvaux, einem Zisterzienser-Abt aus dem 11. Jahrhundert, denken:
Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist… Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter…
Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird zur See. Die Schale schämt sich nicht, nicht überströmender zu sein als die Quelle…
Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich.
Natürlich geht es angesichts all des Schrecklichen in der Welt darum, dass wir uns engagieren, dass wir helfen, wo es möglich ist und uns im Rahmen unserer Möglichkeiten einmischen und versuchen, Leiden zu lindern. Doch Geben muss immer aus der Fülle kommen und dazu müssen wir selbst zuerst unsere eigene Schale füllen, bis sie von selbst und ganz natürlich überfließt. Nur wer sich seines Reichtums bewusst ist, wer sich selbst satt und genährt fühlt, kann mit Freude und mit offenem Herzen geben. Nur, wenn wir in uns selbst Frieden, Güte und Mitgefühl haben, können wir diese auch in die Welt bringen.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen erholsame und nährende Ostertage. Ich hoffe, ihr könnt die freie Zeit genießen und sie nutzen, um ein wenig zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen. Vielleicht wirken meine Gedanken und die Zeilen von Bernhard von Clairvaux ja als kleine Inspiration, euch selbst bewusst mit einer extra Portion Freundlichkeit und Mitgefühl zu verwöhnen.
PS: Wer Lust hat und die zeitlichen und finanziellen Ressourcen gerade erübrigen kann, für den ist vielleicht der bald stattfindende Workshop in Weigenheim eine Gelegenheit, sich eine Auszeit für sich selbst zu nehmen und sich in Freundlichkeit und Mitgefühl sich selbst gegenüber zu üben. Es gibt noch ein paar freie Plätze. Bei Interesse findet ihr alle Informationen und die Möglichkeit, euch anzumelden unter folgendem Link: https://www.selbst-erleben.de/seminare/lebensfreude.php